Die Schauspielerin Vanessa Kirby im Interview (2024)

Vanessa Kirby zählt zu den Kinostars der Stunde, obwohl oder gerade weil sie das Risiko sucht. Beim Gespräch in Venedig erklärt die Britin, woran sie wächst.

Urs Bühler

4 min

Die Schauspielerin Vanessa Kirby im Interview (1)

Eine fast halbstündige Geburtsszene, an einem Stück gedreht, hat als schauspielerische Parforceleistung vor zwei Jahren ihre Karriere so richtig in Fahrt gebracht. Nun sitzt Vanessa Kirby da, fast mädchenhaft zerbrechlich anmutend in ihrer leicht altmodisch wirkenden Bluse. Der Blick führt durchs Fenster direkt aufs adriatische Meer vor Venedig, die Szenerie könnte ebenso gut zu einem Rendez-vous passen wie zu einem Interview.

Sie streckt dem Journalisten die Hand zum Gruss entgegen, wie sie es auch eine Viertelstunde später beim Abschied wieder tun wird mit den Worten: «Thank you, Darling». Wir befinden uns im Hotelpalast Excelsior, der die Stars am Lido zu beherbergen pflegt. Vor zwei Jahren war sie erstmals an diesem Filmfest, ihre Hauptrolle im Wettbewerbsbeitrag «Pieces of a Woman» brachte ihr den Darstellerinnenpreis und später eine Oscar-Nominierung ein. Diesmal ist sie mit der Crew von Florian Zellers «The Son» angereist, der auch am Zurich Film Festival laufen wird. Das wisse sie, und es sei allzu schade, dass sie dort nicht dabei sein könne, sagt die 34-jährige Britin aus gutem Hause mit erlesener Höflichkeit.

Brüllen nach Drehbuch

Als Schauspielerin kann Kirby auch einmal ausfällig brüllen oder kleinlaut wimmern,da beherrscht sie alle Stimmungslagen; und in ihre äusserliche Attraktivität mischt sich dieser Kick Keckheit, der stets für eine Überraschung gut ist. In der hinreissenden Netflix-Serie «The Crown» über das englische Königshaus etwa gab sie die junge Prinzessin Margaret brillant als Mischung zwischen Partynudel und verlorener Existenz.

Und in Ridley Scotts Napoleon-Film mit Joaquin Phoenix in der Titelrolle wird sie als Kaiserin Joséphine zu erleben sein, Sie hat schon im einen oder anderen Hollywood-Actionfilm mitgewirkt, ihr Herz schlägt aber für Autorenfilmer, allen voran Paolo Sorrentino, dessen «La Grande Bellezza» sie geradezu verehrt.

«Ganz in die Erfahrungswelt einer anderen Person einzutauchen, bis sie Teil von einem selbst wird, ist ein unerhörtes Geschenk», preist Kirby die Vorzüge ihres Berufs. «Man lernt dabei so viel Neues über die Welt und über sich. Dank der Empathie urteilt man nicht mehr, und es verändert einen selbst jedes Mal ein bisschen.» Die Hauptfigur von Kornél Mundruczós «Pieces of a Woman» zum Beispiel verliert ihr Kind bei einem Geburtsvorgang, der nicht lauwarm temperiert und ästhetisiert wird wie meist im Kino. Der Film, für dessen Vorbereitung sie Hebammen bei der Arbeit begleitete, lehrte sie Dinge übers Gebären – viel mehr aber über das Trauern. Und das half ihr später bei einem eigenen Trauerprozess, wie sie anmerkt.

Ich scheitere die ganze Zeit, auch am Filmset, etwa wenn ich keinen Zugang finde zu einer Gefühlsregung. Das braucht dann vielleicht sieben Takes, was so frustrierend sein kann.

Auch dass die heute rund um den Globus gefeierte Darstellerin einst von diversen Schauspielschulen abgewiesen wurde, findet sie im Rückblick völlig richtig: «Ich war noch nicht bereit, hatte nur in London gelebt, die Welt kannte ich nicht.» So bereiste sie diese ein Jahr lang, engagierte sich in Afrika in einem sozialpolitischen Projekt und kehrte mit besser gefülltem Rucksack zurück. «Heute versuche ich, Scheitern als Wachsen zu begreifen», sagt sie, die ihren Samuel Beckett gelesen und verinnerlicht zu haben scheint: Das Scheitern gilt ihr als Lebensprinzip, als Motor ständiger Verbesserung.

«Ich scheitere die ganze Zeit, auch am Filmset, Aufnahme um Aufnahme, etwa wenn ich keinen Zugang finde zu einer Gefühlsregung. Das braucht dann vielleicht sieben Takes, was so frustrierend sein kann. In der Schauspielerei gibt man vor, eine andere Person zu sein, muss aber sich selbst und anderen vormachen, dass man nichts vormacht: Da ist das Scheitern programmiert. Nicht zufällig sind die meisten Schauspieler furchtbar unsicher und voller Zweifel.»

Aufgewachsen ist Kirby in Wimbledon, von zu Hause aus hörte sie den Aufprall der Bälle auf den Tennisplätzen, die damals zu King Rogers Reich wurden. Federers berufliche Heimat ist der heilige Rasen, ihre sind im Grunde die Bretter, auf denen die Karriere so vieler britischer Filmgrössen begann: «Ich bin es gewohnt, in dreistündigen Theaterstücken ohne Pause zu spielen», sagt sie. «Es ist für mich leichter, wenn nicht ständig unterbrochen wird wie auf Filmset.»

So war sie bestens gerüstet für jene ungeschnittene Anfangsszene im Drama «Pieces of a Woman», das ebenso auf einem Bühnenstück basiert wie «The Son»: Mit diesem hat der französische Regisseur und Autor Florian Zeller ein eigenes Drama adaptiert, wie schon bei seinem Grosserfolg «The Father» (2020).

Trailer zum Film «The Son».

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Das kammerspielartige Ergebnis ist diesmal nicht ganz so raffiniert gestrickt, aber umso packender: Der 17-jährige Nicholas droht nach der Trennung seiner Eltern psychisch auseinanderzufallen. Er zieht zu seinem Vater Peter (Hugh Jackman) und dessen neuer Partnerin Beth – und führt beide zu einem Abgrund. «Nicholas fühlt sich allein, isoliert, weiss mit seinem namenlosen Schmerz nicht umzugehen», analysiert Kirby. «Ich kann mich so gut in ihn hineinversetzen. Denn in der Primarschule, in der mich andere Kinder aufs Übelste schikanierten, fühlte ich mich ganz ähnlich.» Heute sei sie dankbar für diese Erfahrung, so hart sie auch war: «Sie gab mir eine Verletzlichkeit und eine Möglichkeit, mich mit Aussenseitern verbunden zu fühlen.»

Sie mag es schwierig

Als ihre grösste Angst bezeichnet Kirby die Vorstellung, «nicht furchtlos zu sein»: Sie wolle keinesfalls auf Sicherheit spielen, privat wie beruflich. «Die Rolle der in sich gekehrten Beth war sehr fordernd für mich, die ich selbst vieles rauslasse mit Gesten und Worten.» Der Part der Prinzessin Margaret fiel ihr insofern leichter, doch darauf festnageln liess sie sich nicht: «Ich lehne mich lieber in die schwierigen, ungewohnten Aufgaben hinein.» So wird sie uns hoffentlich noch viele Male überraschen, auf der Leinwand, den Bildschirmen oder Bühnen.

«The Son» am ZFF: 24. und 28. 9. sowie am 1.10.

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